P. Pfenniger: Heinrich Walther und das nationalsozialistische Deutschland

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Titel
Sacro Egoismo!. Heinrich Walther und das nationalsozialistische Deutschland


Autor(en)
Pfenniger, Patrick
Erschienen
Basel 2022: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
330 S.
von
Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Heinrich Walther war in den Jahren 1894–1938 Luzerner Regierungsrat, 1908–1943 Nationalrat, davon 1919–1940 als Präsident der katholisch-konservativen Fraktion, Mitglied zahlreicher Aufsichtsgremien, etwa der SBB, der ETH, der Schweizerischen Depeschenagentur, der Tageszeitung Vaterland, der Centralschweizerischen Kraftwerke etc. Im Nachgang zu der bereits 1976 erschienenen Studie von Peter Menz über Walthers Einfluss auf 14 Bundesratswahlen liegt jetzt eine weitere historische Arbeit über das Wirken dieses Grosspolitikers vor. Dem Autor geht es nicht darum, eine umfassende Biografie vorzulegen, obwohl er seinen Hauptkapiteln substanzielle Ausführungen zu Walthers frühen Jahren vorausschickt und die Studie mit aufschlussreichen Angaben auch zu den letzten Jahren ausklingen lässt. Im Zentrum des Interesses stehen Walthers Haltung zum Nationalsozialismus sowie seine Vorstellungen, wie sich die Schweiz angesichts der von NS-Deutschland ausgehenden Bedrohung zu verhalten habe. Zur Klärung dieser Fragen stehen vor allem Walthers rege Publizistik und einige Schriften seines privaten Nachlasses zur Verfügung. Walther hatte allerdings, wie er 1948/49 in erhalten gebliebener Korrespondenz freimütig erklärte, in einem «alljährlichen Aktenverbrennungsprozess», sein persönliches Archiv gesäubert und dabei «Interessantes, das aber besser nicht in fremde Hände kommt», vernichtet. (S. 27, 293) Dazu bemerkt Pfenninger kritisch, eine ewig weisse Weste zu behalten, sei Walther wichtiger gewesen als schonungslose Aufklärung seitens der Nachwelt.

Walthers Stellungnahmen präsentieren sich als eine Mischung aus konstanten, «ideellen» Überzeugungen und «realpolitischen» Positionsbezügen, die auf sich verändernde weltpolitische Lagen reagierten. Es bleibt allerdings offen und hängt von der Einschätzung der nachträglichen Betrachtung ab, wie weit das angeblich Realpolitische doch auch von Grundeinstellung und Gesinnung bestimmt worden ist. Die prägenden Konstanten waren der tief verankerte Katholizismus (des ursprünglichen Protestanten), eine beträchtliche Dosis Germanophilie (des ursprünglichen Deutschen), der markante Antisozialismus (der unter Berufung auf das Landesstreikerlebnis in der SPS nur eine Variante des Kommunismus sah), sodann das Bestreben, mit einem soliden «Bürgerblock» den drohenden «Linksblock» zu vermeiden. Die wichtigste Variable ergab sich aus der Einschätzung dessen, was ihm zur Vermeidung eines sich zuspitzenden Konflikts mit NS-Deutschland nötig erschien. In der Ausgangslage von 1933 kommt Walther zu einer deutlich negativen Beurteilung des Nationalsozialismus sowie der schweizerischen Frontisten. Die Verfolgung der Katholiken in Deutschland bekümmert ihn. Später wird daraus die analoge Befürchtung (S. 98), womit die Katholiken der Schweiz zu rechnen hätten – darum 1936/ 37 auch, was bemerkenswert ist, die deutliche Ablehnung der frontistischen Freimaurer-Initiative. Noch im März 1940 sprach er sich dafür aus, Diktatur und totalitären Staat «mit aller Schärfe» abzulehnen (S. 142). Ein Jahr später jedoch, im März 1941, als mit einer dauerhaften NS-Vorherrschaft in Europa – je nach Einstellung – gerechnet werden konnte oder musste, zog er ausser der wirtschaftlichen auch eine ideelle Annäherung an das Dritte Reich in Betracht. Er propagierte die Integration der Schweiz in ein vom Dritten Reich beherrschtes Wirtschaftssystem und meinte, dabei die politische Selbstbestimmung wahren zu können (S. 173f.). Dieser Positionsbezug erinnert an eine ähnliche, von «Ziehsohn» Philipp Etter schon im Oktober 1940 geäusserte Einschätzung.1

Pfenningers Ausführungen sind unter Berufung auf Marc Bloch (S. 23) auf Verständnis angelegt, was gewiss nicht mit durchgehender Zustimmung gleichgesetzt werden darf. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, in welchem Mass ein «Ausgleich» mit dem autoritären Nachbarstaat gewollte oder ungewollte Konsequenzen auch für die liberale Staatsordnung der Schweiz gehabt hätte. Eine nachträgliche Analyse hätte deutlicher zum Schluss kommen können, dass es eine Illusion war, mit dem Einschlagen eines «deutschen Wegs» die politische Unabhängigkeit zu wahren. Pfenningers Annahme, dass Walther eine Annäherung lediglich aus taktischen Gründen (S. 213) gesucht hätte, trägt nicht der Möglichkeit Rechnung, dass ein solcher Schritt zum Teil auch seiner politischen Grundhaltung entsprach. Walther wünschte zwar eine einige Schweiz, sprach sich aber entschieden gegen eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten aus, er forderte eine weitere Einschränkung der Pressefreiheit und hatte Vorbehalte gegenüber den «Welschen» (S. 134, 223). Der aussenpolitische, sich rational gebende «Pragmatismus» Walthers hatte als nicht unwesentliche Voraussetzung die gegebene Germanophile, die innere Distanz zu den Westmächten und die dezidierte Befürwortung des antibolschewistischen «Schicksalskampfes».

Innovativ und anerkennenswert ist Pfenningers Versuch, gestützt auf die «Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv» des polnischen Wissenschaftssoziologen Ludwik Fleck (1935), zusätzliches Verständnis für Walthers Verhalten zu gewinnen. Die Auswertung dieses Ansatzes bleibt allerdings in den Anfängen stecken und könnte als Versuch missverstanden werden, die individuelle Verantwortung durch Hinweise auf Gruppenzugehörigkeit zu entlasten. Bei Pfenninger lesen wir: «Je einflussreicher Heinrich Walther wurde, desto stärker wirkten nicht-katholische Einflüsse auf ihn.» (Hervorhebung GK, S. 25). Flecks «Denkkollektiv» müssten wir in diesem Fall wohl im Plural denken, als Verbindung von rechtsnationalen Haltungen, die im katholischen Milieu kein Korrektiv hatten (S. 196). Im Verlauf der Lektüre erfahren wir, wen Pfenninger zum pauschal gefassten Denkkollektiv zählt: zum Beispiel den Militär Eugen Bircher, den Diplomat Hans Frölicher oder den Chefbeamten Heinrich Rothmund etc. Im Gegenzug zu der bis zu einem gewissen Grad einleuchtenden Zuordnung wäre, was allerdings von der biografischen Spur weggeführt hätte, in einem weiteren Schritt noch abzuklären, worin sich Angehörige von Kollektiven doch auch voneinander unterscheiden. Dies wäre innerhalb des katholisch-konservativen Milieus mit systematischen Vergleichen zwischen dem radikaleren Freiburger Lager und dem etwas gemässigteren Innerschweizer Lager und innerhalb dieses zweiten Lagers zwischen Walther, Etter und etwa dem christlich-sozialen «Vaterland»-Redaktor und Nationalrat Karl Wick mit vertretbarem Aufwand machbar gewesen.

Wie im oben zitierten Satz angenommen wird, war Walther nicht nur beeinflussendes Subjekt, sondern auch beeinflusstes Objekt. Pfenninger nimmt den heute gängigen Begriff des «Influenzierens» auf (S. 219). Walther könnte mit seinem Einfluss vor allem bereits bestehende Haltungen bekräftigt haben. Die Grenzen seines Einflusses werden in eklatanter Weise sichtbar im erfolglosen Versuch vom November 1940, den freisinnigen Bundesrat Stampfli zu bewegen, eine Wirtschaftsgemeinschaft mit NS-Deutschland anzustreben (S. 178 f., 220 f.).

Pfenningers Arbeit vermittelt alles in allem eine gut nachvollziehbare und in den weiteren weltpolitischen Kontext eingebettete Darstellung von Walthers Positionsbezügen, und sie stellt uns mit seinem Einbezug von Flecks theoretischem Konzept einen Ansatz zur Verfügung, den weiterzuverfolgen sich lohnt.

Anmerkung:
1 Vgl. Thomas Zaugg, Bundesrat Philipp Etter (1891–1977), Zürich 2020, S. 518 f.

Zitierweise:
Kreis, Georg: Rezension zu: Pfenniger, Patrick: Sacro Egoismo! Heinrich Walther und das nationalsozialistische Deutschland, Basel 2023. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(2), 2023, S. 226-228. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00127>.

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